Inhalt von „Die geheimnisvolle Freundin“
Abruzzen, 1950er Jahre. Von Geburt an lebt Nina in einem von strengen Nonnen geführten Waisenhaus auf dem Land. Als sie sieben ist, wird Lucia aufgenommen, die gerade ihre Eltern verloren hat. Zwischen den beiden gleichaltrigen Mädchen entwickelt sich über viele Jahre hinweg eine enge Freundschaft. Bis ein dramatisches Missverständnis ihr Vertrauensverhältnis nachhaltig erschüttert und beide getrennte Wege gehen.
Nina findet Arbeit in einer Tabakfabrik, erfährt dort Solidarität und schöpft neue Zuversicht für ihr weiteres Leben. Dann steht eines Tages Lucia vor ihrer Haustür. Und vertraut ihr ein für beide weitreichendes Geheimnis an …
Meine Meinung
Die geheimnisvolle Freundin von Simona Baldelli ist ein ruhiger, aber emotional ziemlich wuchtiger Roman, der einen mitten hineinwirft in ein Italien der 1950er Jahre, in dem Kinderleben oft wenig mit Kindheit zu tun hat. Nina wächst von Geburt an in einem von Nonnen geführten Waisenhaus in den Abruzzen auf – als Findelkind ganz unten in der Hierarchie, umgeben von Strenge, Entbehrung, Kälte und einem Alltag, in dem Zuwendung eher Ausnahme als Regel ist. Umso einschneidender wirkt es, als Lucia aufgenommen wird, ebenfalls sieben Jahre alt, frisch verwaist und für Nina zunächst so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Aus der Sehnsucht nach Nähe und Verbundenheit entsteht zwischen den beiden eine Bindung, die Nina lange trägt – auch wenn viele Leserinnen (das spiegeln die Rezensionen stark wider) diese „Freundschaft“ eher als schiefes Machtgefälle wahrnehmen: Nina gibt, schützt, verzichtet, während Lucia oft egoistischer, verwöhnter oder manipulativer wirkt. Genau dadurch wird das Ganze aber psychologisch interessant, weil es nicht die romantisierte „Wir gegen die Welt“-Freundschaft ist, sondern eher die Geschichte davon, wie sehr ein Mensch nach Liebe hungern kann – und wie teuer es wird, wenn man sie an der falschen Stelle sucht.
Baldelli erzählt Ninas Weg über Jahre hinweg und setzt dabei immer wieder Kontraste: die bedrückende Enge des Waisenhauses, dann später das Erwachsenenleben, in dem Nina Arbeit in einer Tabakfabrik findet. Dort begegnet sie zum ersten Mal echter Solidarität, weiblichem Zusammenhalt und einer Ahnung davon, dass ein Leben außerhalb der alten Mauern möglich ist – nicht leicht, nicht glamourös, aber selbstbestimmter. Dieses Fabrikmilieu und die Dynamik zwischen Arbeiterinnen, Klassenunterschieden und dem Wunsch nach Bildung und Aufstieg gehören für viele zu den stärksten Teilen des Romans, weil hier aus Ninas persönlicher Geschichte plötzlich eine gesellschaftliche wird: Es geht nicht nur um zwei Mädchen, sondern um Frauen, Herkunft, Macht, Abhängigkeit, darum, wer sich Freiheit leisten kann und wer sie sich Wort für Wort erkämpfen muss.
Sprachlich wird das oft als große Stärke beschrieben: bildhaft, atmosphärisch, ohne kitschig zu werden, mit einem sehr genauen Blick für Mechanismen von Ausgrenzung und die kleinen Momente, in denen Hoffnung überhaupt erst überlebt. Gleichzeitig gibt es einen häufigen Kritikpunkt, den man ehrlich erwähnen sollte: Titel und Klappentext wecken bei vielen Erwartungen, die der Roman nur teilweise erfüllt. Die Beziehung zwischen Nina und Lucia ist wichtig, aber nicht immer das Zentrum, und das angekündigte „dramatische Missverständnis“ wird von manchen gar nicht als solches erlebt. Auch der Aufbau mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln ist nicht für jeden flüssig, und das Ende wirkt auf einige etwas zu glatt oder zu schnell „versöhnt“, gemessen an der Härte davor.
Unterm Strich ist Die geheimnisvolle Freundin weniger ein klassischer Freundinnenroman als eine sozialkritische, emanzipatorische Entwicklungsgeschichte: Nina wächst in einer Welt auf, die sie klein halten will, und findet dennoch Wege, sich zu behaupten – erst durch Bindung, später durch Arbeit, Gemeinschaft und ein wachsendes Verständnis für das System, in dem sie steckt. Das ist stellenweise schwer zu ertragen, aber gerade deshalb berührend, weil es zeigt, wie Widerstand manchmal leise beginnt: nicht als große Revolte, sondern als der Entschluss, sich nicht brechen zu lassen.







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